Bertram Bartl
Neoarchaik

Stimmen

Die ausgestellte Werkreihe trägt den klangvollen Titel „Acercamiento a Mexico“, zu Deutsch „Annäherungen an Mexiko“. In der umfangreichen Phase dieser Werkreihe, die bereits seit 2016 andauert, hat er bisher über 50 mittel- und großformatige Bilder geschaffen. Wie der Titel beschreibt, handelt es sich im buchstäblichen Sinne um Annäherungen an das schillernde Land Mexiko. Diese Annäherung hat jedoch nicht, wie man vermuten mag, durch eine tatsächliche Reise stattgefunden, sondern ist das Resultat einer rein geistigen Auseinandersetzung.

Besonders die Beschäftigung mit Literatur über die Kultur der Azteken und der Maya diente als Ausgangspunkt. Diese auf den ersten Blick distanzierte, historische und unpersönliche Arbeitsweise erklärt vielleicht, warum seine Werke gänzlich frei von folkloristischem und romantisierendem Ballast sind, den beispielsweise die mexikanische Nationalheldin Frida Kahlo in ihren surrealistischen Werken transportiert. Aber auch eine romantisierende und eskapistischen Sichtweise, wie die Paul Gauguins, der die Inselbewohner Tahitis zu edlen Wilden verklärte, scheint Bertram Bartl fern zu sein.

Allerdings erscheinen uns seine Werke, auch wenn sie frei von jeglicher Romantisierung sind, viel zu lebendig, um auf Basis einer bloß theoretischen Annäherung entstanden zu sein. Und so geht man fehl, wenn man seine Werke als Ergebnis und Beitrag zu diskursiven wissenschaftlichen Prozessen versteht. Vielmehr nutzt er die Begegnung mit dem Fremden als Quelle der Inspiration und somit nur als Ausgangspunkt. Hinzu gesellt sich in seinen Werken das Bewusstsein der Unmöglichkeit, unsere westliche Perspektive auf ein fernes Land wie Mexiko abzulegen.

Dennoch ist Bertram Bartl kein politischer Künstler und so hat er eine ganz eigene Form gefunden, diese Gegebenheit in sein Werk zu integrieren. Denn je länger wir auf seine Werke blicken, desto deutlicher erschließt sich der Grund ihrer Lebendigkeit: was wir sehen sind nicht bloße Stereotypen, die dem Kanon der altmexikanischen Vorbilder entsprechen, sondern gleichzeitig Individuen, die einen eigenen und persönlichen Charakter besitzen. Diese Abweichung vom historischen Vorbild ist eben jenem westlichen, durch den Individualismus geprägten Blick geschuldet, den er durch das Medium der Zeichnung zu Tage fördert. Die Zeichnung stellt für ihn eine praktische Form der Reflexion dar. Und blickt man in Gesichter so erkennt man in ihrer Mimik unterschiedliche Gefühlsregungen sowie Attribute wie eigenwillige Kopfbedeckungen, die allesamt dazu dienen, die eigene Persönlichkeit hervorzuheben. So scheinen die indigenen Gottheiten mit ihren archetypischen Grundformen ihre erhabene Wirkung zugunsten der persönlichen, typisch westlichen Selbstüberhöhung eingebüßt zu haben.

Bertram Bartl-Winter hat also Hybride Wesen erschaffen, die vergangene und damit bereits totgeglaubte Lebensweisen und Menschheitsbilder heraufbeschwören, allerdings nur um diese anschließend wieder in Sinnbilder unserer Zeit zu verwandeln, die nur sich selbst im Blick haben. Dieser Verwandlungsprozess kann hierbei als ein Sinnbild für die vergeblichen Überhöhungsversuche der Menschen verstanden werden, welche die Zeit in ihrer Unendlichkeit ohnehin als egozentrische Kapriolen und bedeutungslose Gesten entlarvt. Und so schaffen es die Figuren nicht, sich von ihrem Urbild zu befreien, denn sie werden unweigerlich auf dieses zurückgeworfen und zeigen hiermit, dass der Mensch keine vollständige Gewalt über seine Natur hat und seine Herkunft nicht verleugnen kann. Die Möglichkeit dieser Analogieschlüsse mahnt uns gleichsam, diese Symbole nicht mit der Brille der kolonialistischen Überheblichkeit zu betrachten. Denn sie zeigen, dass diese Symbolaussagen nicht an eine eurozentrische Kulturgeschichte gekoppelt sind. Auch die mexikanische Kultur besitzt Symbole dieser Art, die sich allerdings von unseren Symbolen, bei aller Ähnlichkeiten in der Aussage, in einigen grundlegenden Wesenszügen unterscheiden. Denn in Mexiko herrscht ein gänzlich anderer Umgang mit dem Tod vor, der am deutlichsten am „Dia de los Muertos“, dem wichtigsten Feiertag Mexikos sichtbar wird. Anstelle einer stillen Besinnlichkeit, wie wir sie vom Totensonntag kennen, tritt eine über drei Tage andauernde Explosion der Farben, welche von Musik, Tanz und gutem Essen begleitet wird.

Dieses Fest der Sinne spiegelt sich auch in Bertrams Bartls Werk wieder. Denn seine Schaffensfreude zeigt sich nicht zuletzt in den leuchtenden Farbflächen, die durch mehrere Schichtungen einen haptischen Reiz erlangen. Durch die Einarbeitung von Quarzsand entsteht außerdem ein fruchtbarer Nährboden, den Bertram Bartl mit unterschiedlichsten Werkzeugen bearbeitet, um Allerlei ans Licht zu bringen. Und so macht er in seinem unermüdlichen Schaffensdrang auch vor unkonventionellen Werkzeugen wie Spülbürsten nicht halt, um einen sinnlichen Farbauftrag zu erzeugen. Sein Interesse am Stofflichen scheint hierbei schier unerschöpflich und so hat sich sein Werk auch dem Medium des Holzschnitts sowie der Tonplastik geöffnet.

Dieses Interesse hat über die Zeit jedoch mehr zu Tage gefördert als bloß Gesichter. Denn als eines Tages eine kaktusähnliche Form in einem Gesicht auftauchte, veranlasste dies den Künstler dazu, sich mit der Pflanzenwelt zu beschäftigen. Bei seinen Pflanzen handelt es sich jedoch keineswegs um unschuldige Natur. Denn je länger man sie anblickt, desto deutlicher werden ihre psychologischen Komponenten. Die Pflanzen wirken mit ihren Stacheln plötzlich aggressiv, rufen Assoziationen zu Geschlechtsorganen hervor oder ziehen uns durch ihren Farbenreichtum, der sie wie psychedelische Ornamente wirken lässt, in ihren Bann.

Stefan Stegmaier, Stuttgart

Acercamiento a México: künstlerische Produktivität und Beziehung zu Neoarchaik

Die ausgestellte Werkreihe trägt den klangvollen Titel „Acercamiento a México“ (Annäherungen an Mexiko). Sie markiert eine neue, sehr produktive Schaffensphase in der künstlerischen Produktion Bartls: Seit 2016 sind über 50 mittel- und großformatige Arbeiten zu diesem Thema entstanden.

Inspiration: mexikanischer Umgang mit dem Tod und Totenzyklus

Um es gleich vorweg zu nehmen: Die ausgestellten Werke sind nicht von Mexiko-Reisen inspiriert, sondern von einer geistigen Auseinandersetzung mit der Kultur und Geschichte des Landes. Fasziniert von dem dort gänzlich anderen Umgang mit dem Thema „Tod“ malte Bertram Bartl vor über 20 Jahren einen zehnteiligen Bilderzyklus mit dem Motiv des Totentanzes, der dann im Herbst 2007 hier in der Scanplus Galerie gezeigt wurde. Dieser Zyklus fängt die Unbekümmertheit und Heiterkeit ein, mit welcher den Verstorbenen am Día de los Muertos, dem wichtigsten Feiertag Mexikos gedacht wird. Die in Mexiko tief verwurzelte Überzeugung, der Tod sei fester Bestandteil des Lebens, geht auf die alten Hochkulturen Mesoamerikas zurück: Maya und Azteken verstanden den Tod nicht als Ende des Lebens, sondern als Übergangsphase zu einer neuen Daseinsform. Am Tag der Toten, so der Glaube, kehren die Seelen der Verstorbenen zu ihren Familien zurück, um sie zu besuchen und gemeinsam mit den Lebenden ein fröhliches Wiedersehen mit Musik, Tanz und gutem Essen zu feiern. Zahlreiche moderne und zeitgenössische mexikanische Kunstwerke zeigen Szenen der Feierlichkeiten wie den Totentanz, aber auch in altmexikanischen Reliefs finden sich immer wieder Darstellungen dieser Auferstehung der Toten.

Recherche zu alten Kulturen Mesoamerikas und Emanzipation von der Neoarchaik

Dieses Thema und das Interesse an der mexikanischen Kultur haben Bertram Bartl nicht mehr losgelassen – in Bücher studierte er die Kultur der Azteken und der Maya und ihre materiellen Hinterlassenschaften. Die kompakten Formen und gedrungenen Proportionen, die er dort sah, die stark konturierende Art der Linienführung und nicht zuletzt die Figuren dieser Bildwelt, sie alle scheinen sich in Bartls Kopf festgesetzt zu haben, nur darauf wartend, endlich auf die Leinwand zu drängen. Ab 2016 war es dann soweit. Die bereits erwähnten „Versuche zu Mexiko“ entstanden, wenn auch noch unter starkem Einfluss der jahrelangen Beschäftigung mit der Neoarchaik.

Merkmal: leuchtende Farbigkeit

Davon hat sich Bartl inzwischen ein Stück weit emanzipiert. Noch immer drückt sich der Künstler vor allem in großformatiger, sinnlicher Malerei, mit durchpflügten, schroffen Flächen aus, nun aber in leuchtenden Farben und Komplementärkontrasten. Purpur, Blutrot, Weinrot, Rosa, Ocker, Grün und Ultramarin erinnern an die oft kunterbunt getünchten Fassaden mexikanischer Städte und beschwören lateinamerikanisches Flair herauf, sind aber auch eine Reminiszenz an Bartls Lehrer Per Kirkeby, der als großer Kolorist, als Meister der Farbigkeit gilt.

Inhalt: vormoderne Vorbilder, die in einen modernen Kontext überführt > Überarbeitung bringt autonome Versionen hervor

In „Acercamiento a México“ überführt Bertram Bartl Darstellungen aus der Geschichte Mesoamerikas in den Kontext des modernen Lebens und der eigenen westeuropäischen Kultur. So entstehen in mehreren Entwicklungsschritten aus den unregelmäßigen und sinnlichen Formen archaischer Zeichen oder primitiver Gegenstände neuartige autonome Versionen, die nur noch wenig ikonische Ähnlichkeit mit ihren realen Vorbildern haben.

Arbeitsprozess

Am Anfang jedes Bildes stehen zahlreiche kleine Skizzen von Formen und Figuren, die sich aus dem Unterbewusstsein Bartls frei Hand auf das Papier ergießen. Einfache Grundformen wie ein halbes Trapez oder das Quadrat sind von zentraler Bedeutung und werden schneller Hand in Köpfe, Gestalten oder Architekturen verwandelt. Es bleibt nie bei einem Entwurf. Ist die Idee erst einmal da, buchstabiert Bertram Bartl sie in vielen Varianten komplett durch und bearbeitet ihre Form auch noch am Computer, bis ihm eine davon für die Leinwand geeignet erscheint. Dort begegnen uns Krieger, Könige, Herrscher und Helmträger, aber auch namentlich benannte Gestalten wie „Xomilco“, ein Angehöriger des Schildkrötenstammes.

Individualität und Hybridität der Figuren Bartls

Während die Gestalt der altmexikanischen Vorbilder festen Darstellungskonventionen folgte und möglichst immer gleich aussah, um ihre Deutung einfach zu halten, malt Bartl in seinen Bildern Individuen. Kein Kopf gleicht dem anderen, und immer wieder zeigen die Bilder wahre Persönlichkeiten, mit schielendem Blick, eigenwillig gestylt und geschmückt, in manchen Fällen sogar tätowiert. Diese starke Betonung des Individuellen ist ein zentrales Attribut unserer modernen westlichen Lebenswelt, d.h. Bertram Bartl erschafft in gewisser Weise Hybride – Gestalten, die die Wesensmerkmale unterschiedlicher Epochen und Kulturen in sich vereinen.

Das Thema „Mischwesen“ ist noch in anderer Hinsicht von großer Bedeutung, denn manchmal ist es gar nicht so leicht zu deuten, was wir in Bartls Bilder sehen. Neben Menschen sind das auch tierische Gestalten, Pflanzen und Gebäude, allerdings ist es in einigen Fällen schwierig, das Gesehene einer dieser Kategorien zuzuweisen. Die Gebäude und Pflanzen weisen oft sehr menschliche Züge auf, während die kompakte Form der menschlichen Figuren häufig eine stark architektonische Anmutung hat. Je länger man manche Bilder betrachtet, desto stärker changiert das Motiv: Häuser haben plötzlich Gesichter und verwandeln sich in Köpfe, ein Totem enthält einen Teil eines weiblichen Akts, wodurch der obere Teil des Pfahls plötzlich als Figur wahrgenommen werden kann, und die Form mancher Pflanzen erinnert an die weibliche Vulva – alles ist irgendwie belebt.

Plastische Qualität der Werke

Sich Zeit zu nehmen, lohnt sich auch in anderer Weise, denn erst bei genauem Hinsehen offenbaren sich die plastische Qualität der Werke und der hohe Zeitaufwand, der mit der Fertigung dieser Bilder verbunden ist. Schicht um Schicht oft pastos aufgetragen, wird die Farbe teilweise mit Quarzsand versetzt, und mit Spülbürsten, Pappkartons und anderen ungewöhnlichen Werkzeugen bearbeitet um den Werken Struktur und Tiefe zu verleihen – viele wirken eher wie flache Reliefs denn wie klassische Tafelbilder. Bertram Bartl arbeitet genreübergreifend wie man an den in der Ausstellung platzierten Tonköpfen sieht: Sie erweitern Bartls Malerei in den dreidimensionalen Raum, sind aber in den ersten Schritten auf identische Weise entstanden wie seine Gemälde. Allerdings wirkten hier seine schnell hingeworfenen Skizzen so räumlich, dass eine plastische Umsetzung unumgänglich erschien. Mit der fachmännischen Hilfe eines Keramikers und Ofenbauers schuf Bartl Skulpturen, die in manchen Fällen eine Brücke zwischen Kunst und Alltagswelt schlagen, da sie als Gefäße benutzbar sind. Gleichzeitig schließen sie den Kreis zwischen Vorbild und Neuinterpretation, da die Darstellungen, auf die sich der Künstler bezieht, oft Gebrauchsgegenstände schmückten.

Interpretation: Visionen von vormodernen Kulturen betonen Vergänglichkeit

Einem Archäologen gleich, nutzt der Künstler Artefakte und Hinterlassenschaften vormoderner Epochen und Kulturen, um fragmentarische Bilder vergangener Lebensweisen heraufzubeschwören. Indem er Objekte und Figuren zitiert, die längst Geschichte sind, thematisiert Bertram Bartl indirekt den Wandel der Zeit und vergegenwärtigt uns über Verweise auf unsere moderne Gesellschaft die Erkenntnis, dass die kurze Spanne unseres Lebens angesichts all dessen, was war und was noch kommt, nur einen Wimpernschlag bedeutet – eine meiner Ansicht nach nicht unwichtige Geste, bedenkt man die oftmals sehr egozentrischen Perspektiven unserer Zeit, ganz nach dem Motto „Nach mir die Sinnflut“.

Interpretation: Kritik an der Komplexität des heutigen Lebens

Bartls Arbeiten erinnern in gewisser Weise an die primitivistischen Werke Paul Gauguins, der, das zivilisierte Leben seiner Zeit kritisierend, in der Südsee nach einem unberührten, verloren geglaubten Paradies suchte und dieses auch zum Thema seiner Kunst machte.

Auch Bartls Werke verdeutlichen uns die Unterschiede zwischen dem sehr viel einfacheren Leben früher Hochkulturen und der hochkomplexen modernen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Man kann seine Bilder als Kritik an der Reizüberflutung, Hektik und Entfremdung in unserer heutigen Zeit lesen, dies ist vom Künstler aber freigestellt. Keinesfalls sind seine Bilder eine naive Verherrlichung vergangener Epochen.

Fokus auf sinnliche Qualitäten statt auf eindeutiger Botschaft

Im Hinblick auf die Rezeption durch den Betrachter legt Bertram Bartl mehr Wert auf die sinnliche Ausstrahlung und materielle Form der Werke sowie auf die darin angelegten Möglichkeiten zur persönlichen künstlerischen Weiterentwicklung, als auf die Vermittlung einer eindeutigen, intellektuellen Botschaft. Bartl spielt mit Zitaten und konfrontiert uns mit merkwürdig hybriden Szenen, deren Deutung er uns Betrachtern überlässt.

Daniela Baumann
Director Exhibitions & Collection The Walther Collection

„Annäherung an Mexiko“ heißt Ihr neues Thema. Wie sind Sie darauf gekommen?

In den 90er Jahren habe ich mich intensiv mit dem Motiv des Totentanzes auseinandergesetzt und inen zehnteiligen Bilderzyklus dazu gemalt, wobei ich Zeichnungen eingescannt, am Computer verfremdet und dann in großformatige Malerei umgesetzt habe. Dabei bin ich auf die Darstellungen von José Posada gestoßen, einen mexikanischen Kupferstecher aus dem frühen 20. Jahrhundert, die mich fasziniert haben.

Was genau hat Sie daran fasziniert?

Die Grafiken zeigen einen völlig unbekümmerten Umgang mit dem Tod. Posadas Skelette wirken äußerst lebendig, sie fahren Fahrrad, kochen oder bauen Boote. Beerdigungen in Mexiko sind heute noch eher fröhliche Angelegenheiten, mit Picknick auf den Gräbern. Das ist etwas, das unserer Kultur eher fremd ist.

Aber erst 2016 haben Sie das Thema dann tatsächlich angefasst.

Ja, denn bis dahin habe ich mich intensiv der Neoarchaik gewidmet. Das ist ein mittlerweile etablierter Begriff, der von mir selbst stammt. Es geht um einfache Grunddaten von Gesichtern, wenn Sie so wollen um „Punkt, Punkt, Komma, Strich“. Bei diesen Gesichtsgerüsten ist auch die Farbpalette eher auf archaisch-erdige Töne reduziert. Von diesem engen Spektrum wollte ich weg, wollte wieder mehr Farbe wagen, wie ich in den wilden 80ern nach meinem Studium bei Per Kirkeby eigentlich angefangen habe.

Aber Gesichter sind nach wie vor Ihr Hauptmotiv?

Ein Kunstkritiker hat mich einmal als „Kopfjäger“ bezeichnet. Das stimmt, allerdings sind die Gesichter aus der Mexiko-Phase ausdrucksstärker, individueller. Die Augen schielen, Ohren sind verformt, die Köpfe sind geschmückt, die Haut ist tätowiert.

Orientieren Sie sich dabei an Abbildungen aus der Maya-Zeit?

Ja, aber ich übertrage sie nicht eins zu eins. Ich will die Maya-Kultur nicht nachahmen. In dieser Kultur gibt es im Wesentlichen nur einen Gesichtstypus, den des Kriegers oder Herrschers. Die Darstellungen wirken relativ gleichartig, ähnlich wie Buddha-Statuen. Ich will ihnen aber individuelle Züge geben, ihre Psyche nach außen kehren. Das ist meine europäische Tradition, die Betonung des Individuellen. Alle meine Gesichtsdarstellungen sind Hybride.

Hybride?

Das sind für mich Kreuzungen oder Vermischungen verschiedener Kulturen.

Wie entstehen Ihre Bilder?

Zunächst zeichne ich völlig frei Gesichter. So entstehen hunderte von Skizzen. In diesem „Bilderbuch“ blättere ich immer wieder und treffe dann eine Auswahl. Die Zeichnungen werden dann noch auf Symmetrie getrimmt oder mit dem Computer verformt. Mithilfe eines Beamers projiziere ich die Zeichnungen auf die Leinwand. Sie dienen als Malgerüst.

Und die farbliche Gestaltung?

Die farbliche Umsetzung ist völlig offen. Die Palette reicht von Karibik-Blau, das sowohl für Himmel als auch für Wasser stehen kann, bis zu leuchtendem Orange und Grün. Auf einmal spielen auch Komplementärkontraste eine Rolle. Das ergibt sich aber während des Malprozesses.

Waren Sie überhaupt schon mal in Mexiko?

Nein. Aber Karl May war auch nie in Amerika. Wie gesagt, mir geht es nicht um kulturelle Aneignung. Die Kultur der Maya ist rätselhaft und soll es bleiben. Ich möchte eine Parallelwelt dazu schaffen, die im besten Fall ebenso rätselhaft ist. Gauguin arbeitete in der Südsee, aber er fragte sich: „Wie das Feuer wieder entzünden, von dem schon selbst die Asche zerstreut ist?“. Ich versuche, das Feuer über meine Malerei wieder zu entfachen.


Bertram Bartl beschäftigt sich mit Nacktheit auf seine ganz eigene Art. Seine Venusdarstellungen verweisen auf die Frauen des Paläolithikums … . Die von Bartl in mehreren Schichten aufgetragenen Erdfarben machen die Vitalität und geerdete Plastizität seiner Venusfiguren spürbar. Diese Frauen erscheinen in ihrer üppigen, vor dem Betrachter quasi ausgebreiteten Körperlichkeit erotisch. Arme oder ausgearbeitete Köpfe würden diesen Gesamteindruck nur stören. Der Künstler hat sich mit diesem Problem beschäftigt und sie entsprechend reduziert dargestellt. Bartl betont, dass es ihm um das Erleben von Körpern geht. Tatsächlich wirken seine Venusakte wie wahre Körperlandschaften, die zugleich riesenhaft, aber doch intim wirken, als seien diese Frauen ganz bei sich selbst, in sich ruhend.

Heidrun Heil
Kunsthistorikerin, Ulm

Nur Augen, Mund und Nase, gleichsam die anthropologischen Grunddaten, zeigen Bertram Bartls neueste Bilder, die er unter den Begriff der Neoarchaik gestellt hat. Archaisch ist die Flächigkeit dieser Gesichter, die meist plan vor einem Hintergrund stehen und nur durch Modellierungen und verschiedene Oberflächen an Räumlichkeit gewinnen. Die Gesichter begleitende Gipsskulpturen sind dazu wie altmexikanische Reliefs aus dreidimensionalen Rechtecken und winklig gebrochenen Konturen aufgebaut. In ihrer Dreidimensionalität bringen sie das Gesicht in Form von Augenhöhlen und Mundöffnungen direkt zur Anschauung.

Die Malerei erscheint dagegen zum Teil fast völlig abstrakt. In der Regel hochformatige Leinwände mit monochromem Hintergrund sind mit Liniengerüsten strukturiert, die exakt aus Skizzenblättern reproduziert sind. Die winzigen Kopfformen, die seit Jahren zu Hunderten entstehen, wandeln sich unter der Hand des Malers zu Flächenordnungen. In den Gesichtsbildern sind es zu Haken, Ösen, Schlaufen und Winkel vereinfachte Gesichtszüge, die in den meist leicht gerundeten, aufragenden Flächen das Gesicht nur vermuten lassen. Vom fast abstrakten Gesichtskreuz über graphische Kürzel, die in Flächen eingehängt sind, bis zu den Musenköpfen, die an Arbeiten von Brancusi erinnern, reicht die Bandbreite der Gestaltung. In der Serie der Musen zerfällt der Typus scheinbar, ist einmal auch nur hälftig zu sehen, sonst durch einen Riss getrennt und mit Klammern fest verschraubt. Diese Arbeit am Typus des Gesichtsbildes geht einher mit einer reichen und differenzierten Malerei. Glatt verstrichene sind gegen getüpfelt strukturierte Oberflächen gesetzt, eine fast expressive Pinselführung kann kontrollierte Flächen ablösen, dünn gemalte Partien findet man neben Linien, die kaum noch Farbe tragen können. Diese Bilder sind in Ulm entstanden, in einem hohen weißen Raum ohne Ausblick, dem White Cube des Künstlers, der hier in immer neuen Varianten seine Bilder sucht und findet. „Malerei ist ein Ritual“, wie er sagt, ein langwieriges Auftragen von Schicht um Schicht, bis das Bild soviel Gewicht hat, dass es stehenbleiben kann.

Jedes Werk ist eine Hypothese dazu, wie das Konzept Malerei heute mit Leben erfüllt werden kann.

Die Beschränkung auf das einzige Motiv des Kopfes dient dabei als Gerüst, mittels dessen die Materie auf der Leinwand geordnet wird. Im Gesicht ist aber auch die sinnliche Präsenz des Menschen konzentriert, die in Erinnerung an Kandinskys Polarität der abstrakten und damit geistigen Form des Bildes Spannung verleiht. Weit weg von Mexiko oder anderen archaisch gestimmten Orten entsteht so Bertram Bartls Kunst als Malerei über Malerei.

Neoarchaik ist ein Begriff, der nicht nur auf die Reduktion der Gestalt, sondern auch auf die Tradition elementarer Malerei verweist. Das kleine Neo davor erinnert an die Distanz, die uns von Altmexiko und anderen archaischen Kulturen ebenso trennt, wie von allen hochfliegenden Ursprünglichkeitsversprechen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Dr. Reto Krüger
Kunsthistoriker, Karlsruhe

… Wenn ein Lexikoneintrag recht hat, der besagt, dass archaische Kunst die Frühstufe einer Kunstentwicklung meint, die durch einen strengen, kargen Stil gekennzeichnet werde, dann stellten Bertram Bartls Werke den gelungenen Versuch dar, nach dem Verlust einer früheren Kultur, einer früheren Kunststufe diese Naivität, scheinbar paradoxerweise, in einem zweiten Durchgang bewusst, reflektiert neu zu erobern, in einer Zeit, in der in der Welt der Kunst schon alles durchbuchstabiert worden ist, vom Realismus, Naturalismus und Impressionismus des 19. Jahrhunderts bis zur totalen Abstraktion und der „neuen Heftigkeit“ der zurückliegenden Jahrzehnte. Bertram Bartl unternimmt nichts Geringeres als den Versuch, eine reflektierte, eine neue, eine scheinbare Naivität zu konstituieren, wie dies Heinrich von Kleist in seinem „Versuch über das Marionettentheater gefordert hat. … Bertram Bartl sagt, Malerei bestehe aus einem langwierigen Auftragen von Farbe Schicht um Schicht, bis das Bild so viel Gewicht habe, dass es stehen bleiben könne. Malerei sei ein Ritual. Auch diese Aussage stimmt zum Konzept der Neorchaik. Es ist deutlich, dass gerade unsere Zeit Rituale braucht.

Dr. Jürgen Glocker
zur Eröffnung der Ausstellung am 15.10.2005 in der alten Werkhalle in Waldshut-Tiengen

… Bartl arbeitet am Typus seiner Gesichtsbilder, konzentriert sich auf deren Augen- und Mundpartien sowie die Nasen als Mittellinien, spinnt hier gleichsam forschend mehrere Fäden, weist in verschiedene Richtungen mit hoher Dichtigkeit, legt so alles offen, verbirgt nichts - und erzeugt doch eine geheimnisvolle Wirkung. Vor monochromem Hintergrund lässt der Maler die aus Liniengerüsten konstruierten Gesichter stehen und lässt den Betrachter so ins erdfarbene Innere der Gesichter schauen.

Ralf Heese
Neu-Ulmer Zeitung vom 5.3.2007

… Wie lange arbeitet er an einem Bild, man kann es hier mit Händen greifen. Da gibt es gar nicht mal so große Farbflächen, die aufregend reliefartig und plastisch daherkommen, da sieht man eine Farbfläche, eine Schicht über der anderen, so dicht und so dick, dass sie nahezu wie veritables Mauerwerk wirkt.

Burhard Meier-Grolman
zur Eröffnung der Ausstellung in der Galerie im Kornhauskeller am 21.4.2006

Ähnlich wie beim Primitivismus Gauguins, Picassos oder Kirchners beinhaltet Bertram Bartls Neoarchaik m. E. eine gute Portion Gegenwartskritik. In seinen Werken äußert sich die Sehnsucht nach einem unentfremdeten Dasein. Wichtig dabei ist, dass die Formen und Inhalte von Bartls Neoarchaik nur vor dem Hintergrund unserer europäischen Kultur verständlich sind und nichts mit den wirklichen Absichten archaischer Kunst zu tun haben. „Ursprünglich“, „echt“ oder „kraftvoll“ wirken sie nur vor dem Hintergrund unserer Tradition. Gleichzeitig entlarvt Bartl aber auch die Ursprünglichkeitsversprechen unserer eigenen Gegenwart, indem er uns mit seiner Kunst zeigt, was an unserer Zivilisation zu kurz gekommen ist: Arbeitsteilung und Technik machen unsere Lebensverhältnisse kompliziert, undurchschaubar und manchmal sogar lebensfeindlich. Wir sind eben weit entfernt von einem ursprünglichen, instinktgeleiteten Leben.

Aber genau an diesem Punkt kann Bertram Bartls Kunst Brücken bauen: Denn was der Lebensalltag uns „globalisierten“ Menschen versagt, das kann der Mensch wenigstens im Bereich der Kunst ausleben oder erleben. Kunst gibt uns ein Modell, wie wir uns in der Gegenwart einrichten können. Wir verlangen von Künstlern nicht mehr die Feier oder Überhöhung bestehender Verhältnisse, sondern dass sie uns modernen Menschen eine Art Gegenentwurf zu unserer gelegentlich unterdrückten Natur geben.

Heidrun Heil
Kunsthistorikerin, Ulm

Das Archaische im Werk Bartls liegt zum einem in der Wahl seines Themas zum anderen in der Art und Weise, wie er dieses Thema umsetzt. Das Neo-Archaische – und damit das Zeitgenössische dieser Malerei – entdecke ich in den Brechungen, die sich in den Bildern wie in den Skulpturen finden lassen. Bei aller Schwere der Form, bei aller archaischen Kraft dieser auf ihre Wesensmerkmale geschrumpften Köpfe, sind es doch ganz heutige Personen - im weitesten Sinne -, die uns hier begegnen. Ihre archaische Erscheinung ist ein bewusst gewählter Zustand, um sich abzugrenzen, um sich nicht den Regeln von Gesellschaft und Markt einfach zu ergeben. Dass es sich nicht um hagestolze Einsiedler handelt, verrät uns die sorgsame malerische Durchführung. Sie lockt den Betrachter an, fordert ihn zum Verweilen vor dem Bild auf. Aus dieser Gleichzeitigkeit entsteht eine Spannung, die sich nicht entlädt. Dass Bertram Bartl uns damit konfrontiert, ist kein geringes Verdienst.

Dr . Martin Mäntele
Ulmer Museum

Veröffentlichungen/Redebeiträge

  • Dr. Krüger, Reto: Bertram Bartls Neoarchaik, Katalogvorwort (unveröffentlicht), Ulm 2003
  • Dr. Glocker, Jürgen: Ausstellungseröffnung Bertram Bartl am 15.10.2005 in der Alten Werkhalle in Waldshut-Tiengen
  • Meier-Grolmann, Burkhard: Bertram Bartls Neoarchaik, Ausstellungseröffnung 2006, Galerie im Kornhauskeller
  • Dr. Mäntele, Martin: Bertram Bartl, Neoarchaik, Ausstellungseröffnung 17.6.2009, Museum des Landkreises Neu-Ulm, Oberfahlheim
  • Heil, Heidrun (Kunsthistorikerin): „Bertram Bartl – Neoarchaik“, Ausstellungseröffnung 12.10.2009 Sparkasse Ulm
  • Käppeler, Ottfried: Entschiedene Reduktion, Südwestpresse Ulm, 7.3.2007
  • Käppeler, Ottfried: Vielfältige Köpfe, SWP, 20.6. 2009
  • Käppeler, Ottfried: Sein Motiv ist das Gesicht, SWP 25.4.2006
  • Käppeler, Ottfried: Hier wird Malerei fast schon zelebriert, SWP 2004
  • Wikipedia: Bertram Bartl